DIPL.-ING. ULRICH ENGELKE · 38350 HELMSTEDT · AM FRIEDHOF 6
Bundesverfassungsgericht
Herrn Präsidenten Dr. Andreas Voßkuhle
Postfach 1771
76006 Karlsruhe
Datum: 27.11.2011
Sehr geehrter Dr. Voßkuhle,
in diversen Medien wurde unlängst bekannt, Sie hätten das Internet-Netzwerk Facebook wegen des Verdachts auf Beeinträchtigung des Grundrechts auf "Informationelle Selbstbestimmung" gerügt. Wenn Sie jedoch in der Öffentlichkeit eventuelle Verfassungswidrigkeiten rügen, dann bitte ich ausdrücklich darum dies auch dann zu tun, wenn Grundrechte seitens der Bundesregierung bzw. durch den Gesetzgeber in weitaus wichtigeren Fällen mißachtet werden. So werden im Rahmen des sogenannten "Bildungspakets" von den Jobcentern Beträge direkt an die Leistungserbringer wie etwa Sportvereine gezahlt. Dies ist im Zweiten Sozialgesetzbuch so festgelegt, Zitat:
§ 29 Erbringung der Leistungen für Bildung und Teilhabe
(1) Leistungen zur Deckung der Bedarfe nach § 28 Absatz 2 und 5 bis 7 werden erbracht durch Sach- und Dienstleistungen, insbesondere in Form von personalisierten Gutscheinen oder Direktzahlungen an Anbieter von Leistungen zur Deckung dieser Bedarfe (Anbieter); die kommunalen Träger bestimmen, in welcher Form sie die Leistungen erbringen. Zitatende, Unterstreichung eingefügt
Durch diese Art der Leistungserbringung wird aber geoffenbart, daß es sich bei den Eltern des betreffenden Kindes um Hartz-IV-Leistungsbezieher handelt. Angesichts zahlloser schäbigster Diffamierungen dieser Bevölkerungsgruppe gerade auch durch Mitglieder der Bundesregierung sind Direktzahlungen oder die nicht für alle Bevölkerungskreise üblichen personalisierten Gutscheine nicht akzeptabel. Und ganz offensichtlich wird hier ebenfalls das Recht auf "Informationelle Selbstbestimmung" mißachtet. Aufgrund der Trivialität des Grundrechts muss man von Vorsatz der Bundesregierung ausgehen. Zur Klarstellung ist hierzu auszuführen, dass die Bundesregierung üblicherweise die dem Plenum vorgelegten Gesetzentwürfe entwirft. Es handelt sich hier daher um einen gezielten Angriff auf die Freiheitlich-Demokratische-Grundordnung seitens der Regierung der Bundesrepublik Deutschland.
Ich frage Sie:
1. Wird durch den § 29 SGB-II das Grundrecht auf Informationelle Selbstbestimmung verletzt?
2. Wenn Frage 1 mit ja beantwortet wurde, frage ich Sie weiter, weshalb haben Sie eine Beschädigung des Rechtsstaats seitens des Gesetzgebers nicht gerügt?
Ich komme nun auf den Sanktionskomplex des Zweiten Sozialgesetzbuches im § 31 zu sprechen. Durch diese Praxis wird in etwa neunhunderttausend Fällen das Existenzminimum unterschritten. In rund einhundertdreißigtausend Fällen wird auf Null sanktioniert und die Betroffenen erhalten gar keine Leistungen mehr. Durch dadurch bewirkte Telefon- und Internetsperren der Anbieter aufgrund der Nichtzahlung der Kosten verlieren viele Betroffene eine großen Teil der "Teilhabe am gesellschaftliche Leben". Etliche, vor allen Dingen Jugendliche, verlieren ihre Wohnungen.
Dass Schwangere sich "zu Fuß" Essensgutscheine von den Jobcentern holen müssen, erachtet die Bundesregierung als richtig. Offen gesagt könnte man kotzen, so widerlich ist die zum Himmel schreiende Menschenverachtung.
Im übrigen liegt die Selbstmordrate bei Hartz-IV-Beziehern rund zwanzigmal über dem Durchschnitt. Einige Selbstmorde sind nachweislich durch Sanktionen verursacht. Angesichts des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 09.02.2010, dass inhaltlich das Existenzminimum einschließlich der Teilhabe gewährleistet und nur eine Öffnung bezüglich der Art und Weise und eines gewissen – für alle geltenden - Umfangs der Leistung beinhaltet, sind Sanktionen jedoch nicht mehr zulässig. Auch wenn Sanktionen explizit nicht genannt werden, werden sie doch durch den absoluten und steten Anspruch unmöglich.
Ich frage Sie also: weshalb haben Sie Sanktionspraxis und die Verschärfungen bei den Sanktionen nach § 31 SGB-II nicht gerügt, Herr Dr. Voßkuhle? Denn hier geht es nicht um Kleinigkeiten wie bei Facebook, bei denen die Benutzer auch noch grundsätzlich selbst bestimmen können, welche Daten sie öffentlich machen, nein - hier geht es meines Erachtens um die vorsätzliche Zerstörung des Rechtsstaats, um Willkür, die konkrete Unterschlagung von grundgesetzlich geschützten Sozialleistungen und die Erpressung zur Zwangsarbeit.
Mit freundlichem Gruß
Ulrich Engelke